Börse-Intern
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Der härteste Job der Welt
Ausgabe vom 22.04.2024
Der härteste Job der Welt
von Torsten Ewert
Sehr verehrte Leserinnen und Leser,
was ist für Sie der härteste Job der Welt: in Alaskas Winter nach Erdöl zu bohren, Tierkadaver zu beseitigen oder doch Mutter zu sein? Ok, hier geht es um Börse – das schränkt die Auswahl ein. Mein Favorit ist: Bär am Allzeithoch.
Wann ist ein Bär ein (echter) Bär?
Nun erscheint es nicht wie ein besonderes Kunststück, sich am Allzeithoch bearish zu geben. Viele Anleger nehmen hohe Notierungen als Risiko wahr („Kann man jetzt noch einsteigen?“) und erwarten oft fallende Kurse, weil Aktien überkauft und ihre Bewertungen zu hoch sind oder die Stimmung zu euphorisch ist.
Aber es ist ein Unterschied, bearish zu sein oder ein Bär zu sein, der tatsächlich auf fallende Kurse setzt! Fragen Sie mal alle diejenigen, die seit Oktober immer wieder Short-Trades gestartet haben – während die Aktienmärkte immer weiter und ohne größere Rücksetzer stiegen!
Gut, irgendwann wird das „letzte“ Allzeithoch erreicht. Dann fallen die Kurse erst einmal 25, 50 oder 75 Prozent – und die Bären können frohlocken. Aber bis dahin haben sie den härtesten (Börsen-)Job der Welt.
Es ist nicht so leicht, Anlegern ihre Aktien zu verleiden!
Wer derzeit hier oder anderswo vor Investments bei Nvidia und Co. warnt, muss sich auf harsche Reaktionen einstellen. Ähnlich war es lange Zeit bei Aktien wie Tesla oder Apple oder auch bei Bitcoin und Co. Es ist also gar nicht so leicht, den Anlegern ihre Aktien (oder andere Anlagen) zu verleiden!
Was für einzelne Aktien gilt, gilt aber auch für den Gesamtmarkt. Es war ja schließlich keine Laune der Natur, dass der S&P 500 vom 27. Oktober 2023 bis 12. April 2024 in 113 (Handels-)Tagen um bis zu 28,3 % gestiegen, aber zwischendurch um nie mehr als 2,5 % gefallen ist! Das war nicht nur die siebtlängste derartige Serie seit 1950 und die mit der viertgrößten Performance, sondern auch diejenige mit der zweitgrößten Performance pro Tag (28,3 / 133 = 0,25 % pro Tag).
Nur von Oktober 1960 bis April 1961, als der S&P 500 31,6 % in 118 (Handels-)Tagen zulegte, war die Rally (etwas) dynamischer. Und die drittstärkste Rally brauchte von April bis November immerhin schon 160 (Handels-)Tage für (nur) 28,8 % Plus.
Eingeschüchterte Bären
Nun kann man natürlich argumentieren, dass es in dieser Zeit einfach keine/kaum Bären gab. Naja, im Durchschnitt dieser 25 Wochen lag der Anteil der Bären laut der Stimmungsumfrage der American Association of Individual Investors (AAII) bei 25,8 %. Das ist zwar ein gutes Stück weniger als die 31 % Bären im gesamten Durchschnitt der Historie seit 1987, aber immerhin: In 20 % aller Fälle lag dieser Durchschnitt noch niedriger.
Sicher, nicht alle diese „Bären“ werden verkauft haben oder gar short gegangen sein. Und zweifellos waren die Bullen nicht nur in der Überzahl (durchschnittlich 44,9 %), sondern auch relativ stärker: Nur in knapp 12 % der Fälle gab es noch mehr Bullen in vergleichbaren Zeiträumen. Und offenbar haben die Bullen die Bären in dieser Zeit massiv eingeschüchtert, sonst hätte es keine so lange „Buy the dip“-Phase gegeben.
Aber wer sagt, dass nun die Zeit der Bären gekommen ist? Viele von ihnen dürften noch die Wunden betrauern, die in den vergangenen 6 Monaten in ihr Depot geschlagen wurden. Kaum anzunehmen, dass die Bären trotz des jüngsten Rücksetzers gleich in Scharen aus ihren Höhlen stürmen.
So schnell geben die Bullen nicht auf
Vielmehr dürften etliche Bullen wieder aktiv werden – und nicht nur die Dauerbullen und chronischen Optimisten sowie diejenigen, die sich in eine Aktie oder Rally verliebt haben (die an die Aktie „glauben“) oder diejenigen, die in der Rally so viel Schwein hatten, dass sie sich jetzt für die größten Marktbeherrscher halten (und ihre simple Momentum-Strategie einfach unbeirrt weiterführen).
Wem die bisherigen Rücksetzer zu gering schienen um zuzugreifen, könnte den aktuellen 6%-igen Rücksetzer des S&P 500 als gute Gelegenheit ansehen, um „günstiger“ zum Zug zu kommen. Immerhin kann man jetzt wieder auf dem Niveau vom Februar einsteigen! Vor allem, wenn der S&P 500 wieder die runde 5.000-Punkte-Marke zurückerobert, unter die er am Freitag fiel, dürften viele Bullen wieder Morgenluft wittern.
Und selbst, wenn die Kurse doch weiter fallen – so schnell geben die Bullen nicht auf. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Gerade die „Späteinsteiger“ neigen oft dazu, an ihren Positionen festzuhalten. Der Grund ist blanke Psychologie: Wer zu spät eingestiegen ist, weiß, dass es ein Fehler war zu warten. Wer dann gleich wieder verkauft, nur weil die Kurse „mal ein paar Prozent nachgeben“, würde sich einen weiteren „Fehler“ eingestehen – dass sie überhaupt noch eingestiegen sind. Zwei Fehler nacheinander, und dann noch Geld verloren – das ist für die meisten von uns zu viel. Dann lieber Augen zu und durch.
Das sollten Sie nicht unterschätzen!
Also selbst an einem „richtigen“ Hoch treffen die Bären noch auf eine Menge Bullen, auch wenn darunter viele naive, zittrige und sogar dumme Bullen sind. Schließlich wissen ja auch die Bären noch nicht, dass es tatsächlich ein Hoch ist, sondern müssen fürchten, dass das „Buy the dip“-Spielchen weitergeht.
Nun geht es mir gar nicht darum, Mitleid für die Bären zu wecken. Vielmehr sollten Sie das Beharrungsvermögen der Bullen nicht unterschätzen und aufgrund des Bruchs der 18.000-Punkte-Marke im DAX oder der 5.000-Punkte-Marke des S&P 500 sofort ins Lager der Bären wechseln.
Ich bin mir sicher: Wir werden kurzfristig eine Erholung in den Indizes sehen – die Bullen werden sich bald zum Gegenschlag formieren. Es würde mich nicht wundern, wenn es dabei nochmals auf neue Hochs geht…
In jedem Fall wird diese Gegenbewegung wichtige Erkenntnisse über das aktuelle Kräfteverhältnis zwischen Bullen und Bären liefern. Weitere Indizien sind die Reaktionen der Einzelwerte, die zuletzt stärkere Abschläge (als die großen Indizes) hinnehmen mussten (siehe auch Börse-Intern vom 16.04.2024).
Favoritenwechsel statt Baisse?
Wir – und alle Bären – sollten nicht vergessen, dass es an der Börse stets Favoritenwechsel geben kann. Dabei geht es nicht nur um die klassische Rotation von zyklischen zu defensiven Werten in stürmischen Zeiten für Wirtschaft und Börsen. Es könnte z.B. auch sein, dass die Anleger ein neues Szenario für die Märkte einpreisen: Die zuletzt mehrfach zu hohen Inflationsdaten, die jüngsten Aussagen von Fed-Mitgliedern zur Verlängerung der Hochzinsphase oder gar Zinserhöhungen haben längst auch die Investoren bewogen, ihre Zinssenkungserwartungen nach hinten zu verschieben.
Die (US-) Wirtschaft läuft aber weiterhin auf Hochtouren, eine Schwäche ist nicht in Sicht. Damit könnte aus dem inflationären Schock, der durch die Corona-Pandemie samt Lieferkettenproblemen und den Ukraine-Krieg ausgelöst wurde, ein inflationäres Regime werden, also eine längere Phase stärker steigender Preise (und Löhne) bzw. Zinsen.
In einem solchen Umfeld sind aber z.B. Tech-Werte nicht die erste Wahl für die Anleger. Das haben wir in der Baisse von 2022 gesehen, als diese Aktien besonders stark verloren. Dafür profitieren Energie- und Rohstoffwerte – unter anderem auch deshalb, weil Energie- und Rohstoffpreise ebenfalls steigen.
Was die Relative Stärke derzeit verrät
Und tatsächlich ist ein solcher Wechsel bereits im Gang. Dazu ein Blick auf das Ranking der Relativen Stärke aus mittel- und kurzfristiger Sicht:
Quelle: eigene Berechnungen mit Daten von VWD
Kurzfristig profitieren eben nicht nur defensive Sektoren, wie Versorger und nichtzyklischer Konsum, sondern eben auch Energie und Rohstoffe (rechte Spalte). Information Technology (IT) ist hingegen aktuell der schwächste Sektor.
Und sogar mittelfristig deutet sich dieser Favoritenwechsel bereits an: Da ist der IT-Sektor auf Platz 6 abgerutscht, noch hinter Energie (4) und Rohstoffe (5). Der Finanz- und der Industriesektor bleiben hingegen vorn, was dafür spricht, dass die Anleger a) weiterhin hohe Zinsen erwarten (was den Finanzwerten zugutekommt) und b) auf eine anhaltend gute Konjunktur setzen (wovon die Industriewerte profitieren).
Was für einen Favoritenwechsel spricht
Sicher, insbesondere die aktuelle Stärke der Energie- und Rohstoffwerte kann nur ein Effekt der geopolitischen Eskalation im Nahen Osten sein. Diese hat zuletzt insbesondere den Ölpreis, aber auch den Goldpreis stark getrieben. (Von letzterem profitierten Goldminenaktien als Teil des Rohstoffsektors.) Aber auch andere Rohstoffpreise stiegen zum Teil, z.B. die Industriemetalle.
Doch bisher haben die hohen Preise der Konjunktur bzw. den Konjunkturerwartungen nicht geschadet – und den Aktienkursen der verarbeitenden Industrie ebenfalls nicht.
Wie gesagt, die Bären haben einen echt harten Job, und der jüngste Rückschlag an den Aktienmärkten bedeutet noch lange nicht, dass sie an der Börse schon das Zepter schwingen. Für die Bären mag dies deprimierend sein – für alle Nicht-Bären ist das eine gute Nachricht.
Mit besten Grüßen
Ihr Torsten Ewert
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